Auf dem Weg zu einer Neuen Schweiz

Institut Neue Schweiz

Migration und Globalisierung haben die Schweiz in den letzten Jahrzehnten stark verändert, Mehrfachzugehörigkeiten und Interkulturalität sind Teil unseres Alltags geworden. Rund 40% der permanenten Wohnbevölkerung der Schweiz haben eine Migrationsgeschichte, doch viele dieser Menschen erfahren Diskriminierung und Rassismus.
Gastbeitrag von

Halua Pinto de Magalhães,

Institut Neue Schweiz (INES)
Eine Schweiz mit Migrationsvordergrund
Das Institut Neue Schweiz (INES) ist ein Think & Act Tank mit Migrationsvordergrund an der Schnittstelle von Wissensproduktion, öffentlichem Diskurs und politischem Handeln. Die Arbeit von INES zielt darauf ab, gesellschaftliche Veränderungen sowohl zu verstehen als auch mitzugestalten. Denn Migrations- und Diversitätsfragen prägen nicht nur politische Debatten, sie haben unter anderem auch Einfluss auf den Arbeitsmarkt, auf Geschlechterfragen, Kultur und Bildung. Deshalb setzt die Idee einer Neuen Schweiz am Hier und Jetzt an und verbindet das, was längst da ist mit dem, was sein könnte.
Eine der grössten Herausforderungen, um im Bereich von Migrations- und Integrationsfragen Veränderungen anzustossen, besteht in den sich hartnäckig haltenden Bildern und Narrativen einer imaginären Schweiz: zum Beispiel das Bild eines unabhängigen «Alpenvolks» mit eigener, freiheitlicher Tradition. Dass andere politische und soziale Realitäten zu dieser Geschichte dazugehören, wird dabei ausgeklammert. Dieses Bild einer Schweiz – die es so nicht gibt – entwickelte sich im «Nation Building» des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und wurde Teil einer kollektiven Identität. Zur gleichen Zeit festigten sich die Machtstrukturen des europäischen Imperialismus. Dieser übte nicht nur im ökonomisch-politischen Sinne eine Fremdherrschaft aus, sondern beanspruchte für die Europäer:innen auch eine kulturelle Überlegenheit in der Welt – bis heute sind die Folgen davon zu spüren.
Das Selbstbild der Schweiz als «moderne Nation» ist historisch in verschiedenen Formen mit dem Imperialismus verknüpft: einerseits materiell durch die Aneignung von natürlichen Ressourcen aus der ganzen Welt, andererseits symbolisch-kulturell durch die Abgrenzung zum «Vormodernen», dem «Aussen» oder «Anderen» – den Menschen aus den Kolonien. Konstruiert wurde diese Sicht auf die Welt durch exotisierte-sexistische Werbung, stereotypisierte Bilder oder identitätsstiftende Traditionen. Noch heute finden sich Spuren davon im Alltag der Schweizer:innen, beispielsweise in den rassistischen Emblemen von Basler Fastnachtscliquen oder im Wappen der Zunft zum «Mohren» in Bern. Die Ursprünge hinter solchen Traditionen sind mit diskriminierenden Strukturen und institutionellen Machtpraktiken verbunden. Diese gilt es auszuleuchten und kritisch zu betrachten.
Das Schweizer Bürgerrecht. Ein Recht für wen?
Ein Beispiel, das Fragen nach historisch gewachsener, struktureller Diskriminierung gut zu fassen vermag, ist der Zugang zum Schweizer Bürgerrecht. Ob sich eine Person in der Schweiz einbürgern lassen kann, hängt vom Entscheid ihrer Wohngemeinde und ihres Wohnkantons ab. Dies, obwohl die Folgen einer Einbürgerung sich überwiegend auf bundesrechtlicher Ebene zeigen – schliesslich betreffen sie nichts Geringeres als das Schweizer Staatsbürgerrecht. Der Grund dafür liegt in der historisch wichtigen Bedeutung der politischen Gemeinden in der föderalistischen Schweiz; ihre Wurzeln reichen in die Zeit des Mittelalters zurück. Eine kleine Gruppe von Menschen – der Gemeinde- und Kantonsrat oder die lokale Bürger:innenversammlung – kann also über die Annahme oder Ablehnung eines Gesuchs um Einbürgerung entscheiden, über die offizielle Aufnahme oder Zurückweisung einer Person aus ihrer Gemeinde.
Eine Folge dieser Entwicklung ist beispielsweise, dass die Anforderungen für eine Einbürgerung in die Schweiz nicht zwingend in allen Gemeinden gleich sind. In einigen Gemeinden sind es anstelle objektiver Kriterien weltanschauliche, der «Tradition» geschuldete Ansichten der zuständigen Behörden, die über die Einbürgerung einer Person entscheiden.
Einige Beispiele
Insbesondere in kleinen Gemeinden und in Gemeinden, in denen die Versammlung der Bürger:innen über das Einbürgerungsgesuch entscheidet, führt eine freie Interpretation des Kriteriums «Integration» zu hohen Ablehnungsraten mit willkürlichen, teils abstrusen Begründungen, die tief in die persönliche Freiheit und Lebensführung der Gesuchsteller:innen eingreifen. In vielen Gemeinden werden überdurchschnittliche Kenntnisse über die Geschichte der Schweiz, über die Gemeinde und über das politische System vorausgesetzt. Auch das Verhalten der Gesuchsteller:innen wird teilweise bewertet und fliesst in den Entscheid hinein: In einem Fall wurde der Gesuchstellerin vorgeworfen, sie sei nicht integriert, weil sie mit ihrem Engagement gegen Kuh- und Kirchenglocken Traditionen abschaffen wolle. Ebenfalls Gründe für eine Ablehnung des Einbürgerungsgesuchs waren, dass die Person in Trainerhosen durch das Dorf laufe oder die anderen Bewohner:innen auf der Strasse nicht grüsse. Das Staatssekretariat für Migration empfahl einem Gesuchsteller für eine erleichterte Einbürgerung sein Gesuch zurückzuziehen, weil er wegen vereisten Scheiben zu einer bedingten Strafe verurteilt worden war – er solle es nach Ablauf der Probezeit nochmals versuchen. Das Bundesverwaltungsgericht erklärte den Entscheid für rechtmässig.
Die Dreiteilung des Schweizer Bürgerrechts – Gemeinde, Kanton, Bund – wurde nie angetastet und wird im heutigen politischen Diskurs als «nationale Identität» verteidigt. Gleichzeitig fliesst ein Teil dieser Einbürgerungskriterien in die offizielle Migrationspolitik.
Die koloniale Weltordnung «unterschiedlich entwickelter Kulturkreise» – Schweiz, Europa, restliche Welt – zieht sich mit dem Schengenraum implizit bis in die heutige Bürgerrechtsgesetzgebung. Für Personen ausserhalb Europas ist die Hürde, das Schweizer Bürgerrecht zu erlangen, nochmals deutlich höher. Die Folge davon: Ein grosser Teil der permanenten Wohnbevölkerung in der Schweiz hat keinen Schweizer Pass und ist demnach von der politischen Partizipation ausgeschlossen.
Es zeigt sich also, dass gerade die Frage der Nicht-Zugehörigkeit direkt an die Lebensrealitäten der postmigrantischen Gesellschaft anknüpft. Zugehörigkeit setzt einerseits die gesellschaftliche Anerkennung einer geteilten Geschichte voraus: Es waren aber nicht nur Schweizer:innen mit rotem Pass, welche die Geschichte des Landes geprägt haben. Andererseits ist Zugehörigkeit eine politisch-rechtliche Frage: Die Anerkennung muss mit dem Zugang zu und der Teilhabe an demokratischen Prozessen und gesellschaftlichen Ressourcen wie Wohlstand, Bildung, Arbeit, Mobilität oder Diskriminierungsfreiheit verbunden sein. Um dies zu bewerkstelligen, braucht es ein anderes Wissen über die Schweizer Institutionen und Traditionen. Dieses Wissen ist in den transnationalen und marginalisierten Lebenswelten von Migrant:innen verankert, sollte sich aber auch in den Archiven der offiziellen Schweiz finden lassen. Im Geiste der Neuen Schweiz können so Gegenwartsanalyse und Zukunftsvision miteinander verbunden werden, um neue Imaginations- und Gesprächsräume für eine demokratische Zukunft zu entwickeln – für alle, die da sind und jene, die noch kommen werden.