Gastbeitrag von
Maimuna Kinteh
und
Mani Owzar, Verein Diversum
Welche Geschichten werden erzählt?
Dass wir gewisse Orte mit spezifischen Menschen in Verbindung bringen,
zeigt: Statuen und Strassennamen sind sehr präsent und haben einen
Einfluss darauf, wie wir unser Stadtbild wahrnehmen.
In der Schule lernen wir Dinge über diese Menschen, die an zentralen Orten
verewigt wurden. Wir lernen über deren Bedeutung für die Geschichte.
Weisse, bzw. nicht-rassismusbetroffene Menschen werden in diesen
Darstellungen hervorgehoben und im geschichtlichen Kontext als
ausschlaggebend dargestellt. Wir vergessen dabei oft, dass unzählige
weitere Personen entscheidend dazu beigetragen haben, dass diese Orte und
Menschen den Reichtum und die Anerkennung bekommen haben, die sie im
öffentlichen Raum geniessen.
Die heutige Geschichtsschreibung beruht auf der als selbstverständlich
geltenden weissen Norm: Geschichten
weisser
Menschen werden erzählt – Geschichten von rassismusbetroffenen Menschen
und deren Bedeutung hingegen oft verschwiegen. Geschichtsunterricht wird
so primär aus einer
Perspektive heraus gehalten.Auch in Kinderbüchern und Lehrmitteln sind
rassismusbetroffene Kinder kaum vertreten. Wenn sie sich repräsentiert
finden, dann häufig nicht als handelnde Subjekte, sondern – wie in den
Globi- oder Kasperli-Geschichten – als Objekte, die es zu «entdecken»
gilt.
Dass weiss als Norm gilt, ist vielen Menschen gar nicht bewusst:
People of Color, Personen mit Migrationshintergrund, Schwarze Menschen und
rassismusbetroffene Menschen erhalten durch diese Begriffe eine
Bezeichnung, die ihren Unterschied zur Norm markiert. Weissen Menschen
geschieht dies sehr selten. Diese Selbstverständlichkeit einer
weissen
Norm, die uns vermittelt wird, hat tiefe Wurzeln und ist Teil eines
rassistischen Systems: ein System der Bewertung, Unterdrückung und
Misshandlung, das Menschen anhand von Charakteristika ordnet, um sie dann
auf- oder abzuwerten. In diesem System leben wir.
In der Zeit der Aufklärung wurden pseudowissenschaftliche
aufgestellt, in denen die «weisse Rasse» als die überlegene und am
weitesten entwickelte menschliche Rasse angesehen wurde. Viele bekannte
Philosophen verteidigten diese, unter anderem Immanuel Kant, der in der
europäischen Geschichtsschreibung oft als «Held der Aufklärung» gefeiert
wird. Die Ideologie der «weissen Norm» ist also nichts Neues: Ihre Wurzeln
liegen in den ersten Phasen des
im 15. und 16. Jahrhundert und finden sich in der Aufklärung des 18.
Jahrhunderts wieder. Auch wenn diese Theorien in zunehmender Kritik
stehen, prägen sie das Menschheitsbild und die herrschenden
Machtstrukturen bis in die Gegenwart.
Welche Geschichten wollen wir erzählen?
Um den kommenden Generationen eine andere, rassismuskritische Denkweise
mitzugeben, sollten wir uns bewusst werden, welche Narrative wir in
unserem täglichen Leben reproduzieren und nach welchen Idealen wir leben.
Mit der Arbeit bei Diversum setzten wir hier an: In unseren Workshops für
Lehrpersonen schauen wir zuerst an, wie wir als Gesellschaft Rassismus
erlernt haben und wie wir gemeinsam Verantwortung übernehmen können,
diesen zu entlernen. Dafür ist es notwendig, dass sich alle Kinder und
Jugendliche, auch jene, die von Rassismus betroffen sind, in der Schule
repräsentiert sehen.
Wir müssen uns überlegen, welche Geschichten wir unseren Kindern
erzählen, welche Filme sie schauen und welche Lehrmittel verwendet werden.
Im Geschichtsunterricht ist es zentral, dass nicht nur eine
weisse,
Perspektive gelehrt wird. Die Rolle der Schweiz im Kolonialismus muss
thematisiert werden, ausserdem muss der Beitrag von rassismusbetroffenen
Menschen auf die Schweizer Geschichte sichtbar gemacht werden. Einen
wichtigen Beitrag dazu leisten zum Beispiel
histnoire.ch
– oder die Stadtführungen der
Stiftung Cooperaxion .
Der politische Prozess muss jedoch nicht nur in der Schule stattfinden,
sondern auch in unseren Städten. Rassistische Denkmäler sollten keinen
Platz haben in unserem Stadtbild. Gleichzeitig ist es unerlässlich, dass
mehr Plätze und Strassen nach rassismusbetroffenen Persönlichkeiten
benannt werden, die einen bedeutenden Teil zur Entwicklung unserer
Gesellschaft beigetragen haben. Dies ist 2019 in Neuenburg mit der
Umbenennung des zentralen Platzes vor der Universität in
Tilo Frey
-Platz bereits geschehen – Tilo Frey war die erste Schwarze Nationalrätin
der Schweiz – und stimmt uns hoffnungsvoll für die Zukunft.