Wissenschaft dient dem Kolonialismus. Oder umgekehrt?
Die Wissenschaft war auf diversen Ebenen mit dem Kolonialismus
verflochten. Die europäische Expansion weckte in akademischen Kreisen das
Interesse am Unbekannten. Gleichzeitig ermöglichten wissenschaftliche
Erkenntnisse und technologische Neuerungen die koloniale Ausbreitung. Dazu
musste ein breites Spektrum an akademischen Disziplinen mobilisiert
werden. Zahlreiche Wissenschaftszweige wie die Ingenieurstechnik, die
Rechtswissenschaften und die Linguistik erlebten während des kolonialen
Zeitalters einen Aufschwung. Andere Disziplinen wie die Ethnologie, die
Tropenmedizin und die sogenannte Rassenforschung etablierten sich erst im
Zuge des Hochimperialismus. Es entstand ein sehr spezifisches Wissen, das
die eurozentrischen Positionen der Wissenschaftler:innen widerspiegelte
und das teils bis heute weiterwirkt.
Das Beispiel Louis Agassiz: Wie Wissenschaft Machtverhältnisse
rechtfertigt
Der Freiburger Louis Agassiz war im 19. Jahrhundert ein renommierter
Naturwissenschaftler und einflussreicher
Der aus Môtier stammende Agassiz wanderte nach dem Studium in die USA
aus und lehrte unter anderem an der Harvard University. Seine Biografie
ist ein anschauliches Beispiel für die Verstrickungen zwischen
wissenschaftlicher Forschung und
Agassiz war vor allem wegen seiner bahnbrechenden Eiszeitstudien, seiner
Entdeckungen in der Fischkunde sowie als Hochschullehrer bekannt geworden.
In der Würdigung seiner naturwissenschaftlichen Leistungen wurden seine
rassentheoretischen Beiträge aber bis anhin ausgeklammert – obschon sie
weltweit rezipiert wurden.
Wer war Louis Agassiz?
Louis Agassiz wurde 1807 in Môtier am Fusse des Mont Vully als Sohn eines
protestantischen Pastors geboren. Nach seiner Studienzeit in Lausanne,
Zürich, Heidelberg und München promovierte er 1829 zum Doktor der
Philosophie in Erlangen und 1830 zum Doktor der Medizin in München. Nach
seinem Umzug nach Paris wurden Alexander von Humboldt und Georges Cuvier
seine Mentoren, die ihn ermutigten, sich in Geologie und Zoologie
weiterzubilden.
Nach seiner Rückkehr aus Paris 1832 wurde Agassiz Professor für
Naturwissenschaften an der Universität Neuchâtel, wo er bis zu seiner
Auswanderung in die USA lehrte. Mit der finanziellen Unterstützung des
Königs von Preussen begab er sich im Herbst 1846 in die USA, um dort die
Naturgeschichte und die Geologie der Vereinigten Staaten zu untersuchen
und um in Boston, Massachusetts, eine Reihe von Vorlesungen über
Zoologie zu halten. Die finanziellen Angebote bewegten ihn dazu, sich in
den USA niederzulassen und ab 1847 als Professor für Zoologie und
Geologie an der Harvard University zu lehren. Nach dem Tod seiner ersten
Frau heiratete Agassiz 1850 die Schriftstellerin Elizabeth Cabot Cary
aus Boston, die sich besonders als Verfechterin der Frauenbildung einen
Namen machte. 1852 folgte eine Professur für vergleichende Anatomie in
Charlestown, Massachusetts, die er jedoch zwei Jahre später wieder
niederlegte.
Auf Agassiz’ Geschick für die Beschaffung von Spenden und Fördermitteln
geht unter anderem die Errichtung des Naturkundemuseums in Cambridge,
Massachusetts, zurück. Das Museum of Comparative Zoology wurde 1859
eröffnet und existiert bis heute. Von 1865 bis 1866 unternahm Agassiz
eine Forschungsexpedition nach Brasilien, von der er zahlreiche Exponate
für das von ihm gegründete Museum mitbrachte.
Wissenschaftlicher Rassismus
In seiner Schweizer Zeit war Agassiz noch Anhänger der
Monogenismus-Theorie, die heute allgemein anerkannt ist. Diese
lehramtliche Theorie der katholischen Kirche besagt, dass alle Menschen
aus einem gemeinsamen Ursprung hervorgegangen sind – also von Adam und Eva
abstammen. Während seiner Jahre in den USA entwickelte er aber ein
Interesse für die damals konkurrierende Polygenismus-Theorie, der zufolge
sich in verschiedenen Teilen der Welt Menschengruppen unabhängig
voneinander aus unterschiedlichen Ursprüngen entwickelt hätten.
Ein Beispiel für Agassiz’ Rassismus findest du hier.
Agassiz beschreibt seinen ersten Kontakt mit den afrikanischen
Sklav:innen in einem Brief an seine Mutter und Freunde in der Schweiz vom
2. Dezember 1846:
«In Philadelphia befand ich mich zum ersten Mal in ständigem Kontakt
mit Negern: Alle Hausangestellten des Hotels, in dem ich wohnte, waren
farbige Menschen. Ich wage kaum, Ihnen zu sagen, wie unangenehm dieser
Eindruck für mich war, so sehr widerspricht das Gefühl, das sie in mir
auslösten, all unseren Vorstellungen von der Bruderschaft des
Menschengeschlechts. Der gemeinsame Ursprung unserer Spezies. Doch die
Wahrheit zuerst. So sehr mich der Anblick dieser verkommenen und
entarteten Rasse bemitleidete, so sehr erweckt ihr Schicksal mein
Mitleid, wenn ich daran denke, dass sie wirklich Menschen sind; und doch
kann ich das Gefühl nicht unterdrücken, dass sie nicht von demselben
Blut sind wie wir. Als ich ihre schwarzen Gesichter mit ihren dicken
Lippen und ihren höhnischen Zähnen sah, ihre Wolle auf dem Kopf, ihre
gebeugten Knie, ihre langgezogenen Hände, ihre grossen, gekrümmten Nägel
und insbesondere der bleiche Teint ihrer Handinnenfläche; konnte ich
meine Augen nicht von ihrem Gesicht abwenden, als wollte ich ihnen
sagen, dass sie auf Abstand bleiben sollen, und als sie diese hässliche
Hand zu meinem Teller führten, um mich zu bedienen, wünschte ich, ich
hätte mich entfernen können, um abseits ein Stück Brot zu essen, anstatt
mit einer solchen Bedienung zu speisen.»
Immer vehementer vertrat Agassiz die Auffassung, die «Arten» – auch die
menschlichen – seien nacheinander, gesondert und unveränderlich erschaffen
worden. Er pochte nach seinen Begegnungen mit afrikanischen Sklav:innen
darauf, die angebliche Minderwertigkeit «dieser verderbten und entarteten
Rasse» zu belegen. So machte er sich zu einem bedeutenden Begründer des
wissenschaftlichen Rassismus und, obwohl er im amerikanischen Bürgerkrieg
von 1861-1865 auf der Seite der Nordstaaten stand und die
verurteilte, wurde er zu einem glühenden Vertreter der Rassentrennung. Auf
seine
stützten sich später prominente
,
Mussolini-Verehrer:innen, nationalsozialistische Rassenhygieniker:innen
und Ku-Klux-Klan-Aktivist:innen. Agassiz starb 1873. Vier Jahre später
veröffentlichte seine Ehefrau Elizabeth Cabot Agassiz die Briefe ihres
Ehemanns unter dem Titel Louis Agassiz: sa vie et sa correspondance.
Stellen, in denen sich Agassiz explizit rassistisch äusserte, wurden
jedoch von ihr zensiert. Das deutet darauf hin, dass Agassiz’ Ehefrau
bewusst war, wie umstritten seine Auffassungen bereits Ende des 19.
Jahrhunderts waren.
Agassiz untermauerte seine Ausführungen zu einer Rassenhierarchie mit
einer Illustration, die zeigen sollte, dass die Menschheit keinen
gemeinsamen Ursprung hatte. Ausgehend von seinen zoologischen Studien
unterschied er zwischen acht verschiedenen «Typen», die jeweils durch
eine eigene Fauna gekennzeichnet waren. Die unterschiedlichen
Menschentypen hätten sich aus diesen spezifischen Tierwelten entwickelt,
so Agassiz’ Theorie. Die Abbildung wurde 1854 parallel zum Aufsatz
Sketch of the Natural Provinces of the Animal World and their Relation
to the Different Types of Man im Buch Types of Mankind veröffentlicht.
Die Publikation ging durch neun Auflagen und bot Generationen von
Befürworter:innen der Sklaverei, Polygenist:innen und Rassist:innen eine
vermeintlich wissenschaftliche Argumentationsgrundlage.
Louis Agassiz differenzierte die Menschheit in acht Kategorien, wobei sich jede auf eine Tiergruppe zurückführen lasse. Er nahm damit nicht nur eine genetisch unveränderbare Unterteilung von Menschen vor, sondern stellte auch eine deutliche Hierarchie her.
Wem gehört eine Fotografie? Der Sklave Renty
Als Agassiz 1850 nach South Carolina reiste, besuchte er eine Plantage,
auf der Sklav:innen beschäftigt waren. Ziel seiner Reise war das
Fotografieren von
,
das seiner wissenschaftlichen Arbeit dienen sollte. Agassiz suchte dafür
«richtige» afrikanische Menschen, die noch in Afrika oder in der ersten
Generation in Amerika geboren waren. Diese wurden ihm schliesslich auch
vorgestellt. Die Menschen wurden nackt abfotografiert, die Gesichter
zeugen vom Schmerz und der Erniedrigung, einer der Sklavinnen hat deutlich
Tränen in den Augen. Sie gelten als die ältesten Fotografien von
Sklav:innen. Einer unter ihnen war der aus dem Kongo stammende Sklave
Renty. Interessanterweise wurden die Fotografien zu seinen Lebzeiten nie
veröffentlicht, obwohl Agassiz damit ursprünglich seine
untermauern wollte.
Wo sind diese Fotografien heute?
Agassiz’ Fotografien sind bis heute im Besitz der Harvard University und
Teil des Universitätsmuseums. Rentys Nachfahren erhoben im Frühjahr 2019
allerdings Anklage gegen die Eliteuniversität und stellten deren
Eigentumsrecht in Frage. Da Renty nicht seine Zustimmung zu den
Fotografien geben konnte, seien diese unrechtmässig in den Besitz der
Universität gekommen, so die Anklageschrift. Ferner profitiere die
Harvard University illegal von den Bildern, indem sie sie für Werbe- und
kommerzielle Zwecke brauche. Deshalb forderten Rentys Nachkommen, dass
die Fotografien in ihren Familienbesitz übergeben werden sollten. Die
Klage wurde abgewiesen.
Im Jahr 2019 diskutierte die New York Times in einem
Artikel
die Frage, wem die von Agassiz gewaltvoll gemachten Fotografien von
Sklav:innen gehören.
-Horn,
-Platz: Die Frage nach der
Erinnerungskultur
Über lange Zeit wurde Agassiz als renommierter Naturwissenschaftler
erinnert und zelebriert, wobei seine Karriere als
ein blinder Fleck blieb. In den USA setzte eine kritische
Auseinandersetzung mit Agassiz’
erst mit der Bürgerrechtsbewegung in den 1950er Jahren und in der Schweiz
sogar erst Mitte der 2000er Jahre ein, als neue kulturwissenschaftliche
Forschungsansätze nach den kolonialen Verflechtungen von Ländern fragten,
die offiziell keine Kolonien besessen hatten.
Weltweit tragen rund achtzig Strassen, Plätze und Orte den Namen Agassiz.
Darüber hinaus wurde eine Reihe von Tierarten nach Agassiz benannt. Zu den
Arten, die auf seinen Namen getauft wurden, gehören der Agassiz
Zwergbuntbarsch –
Apistogramma agassizii
– sowie die Kalifornische Gopherschildkröte –
Gopherus agassizii
. Ein riesiger See, der sich zu Ende des Pleistozäns in Nordamerika aus
Gletscherschmelzwasser gebildet und im Altholozän grosse Teile Kanadas
bedeckt hatte, erhielt 1879 den Namen Agassizsee.
Debatte 1: Darf ein Berg Agassiz heissen?
Der Schweizer Historiker und Politiker Hans Fässler rief 2007 die
Kampagne
Démonter Louis Agassiz
ins Leben, welcher sich weltweit Unterstützer:innen und Unterstützer
anschlossen. Das Komitee verlangte, dass das 3’946 Meter hohe
Agassizhorn als symbolische Demontage auf Rentyhorn umgetauft werde.
Nach kontroversen Debatten befanden die betroffenen Gemeinden
Fieschertal (VS), Guttannen (BE) und Grindelwald (BE) 2010
abschliessend: Aus heutiger Sicht seien viele von Agassiz’ Ideen
unverständlich, sein rassistisches Denken sei zu verurteilen und es
sei zu begrüssen, wenn nun die problematischen Seiten ausgeleuchtet
würden. Als grosser Geologe und Zoologe dürfe Agassiz aber durch einen
Gipfel ausgezeichnet bleiben; das stehe der kritischen
Auseinandersetzung nicht entgegen.
Debatte 2: Tilo Frey statt Louis Agassiz
Am 7. September 2018 kündigte der Stadtrat von Neuchâtel an, er habe
in Absprache mit der Universität beschlossen, den
Espace Louis Agassiz
auf dem Gelände der Humanwissenschaften aufgrund des Rassismus des
Namensgebers in
Espace Tilo Frey
umzutaufen. Tilo Frey war die erste Nationalrätin der Schweiz mit
afrikanischen Wurzeln und wurde 1971 für die FDP Neuenburg ins
eidgenössische Parlament gewählt. Der Schweizer Bundesrat verurteilte
zwar die rassistischen Ansichten Agassiz’, sah darin aber keinen Grund
für eine Umbenennung weiterer Orte in der Schweiz. Das
Transatlantische Komitee
Démonter Louis Agassiz
führt die Kampagne zur Neubeurteilung von Louis Agassiz indes weiter.