Versprechen gegen den Hunger

Nova Friburgo

830 Freiburger:innen sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Brasilien aufgebrochen mit dem Ziel, eine Kolonie zu gründen. War die Überfahrt einmal geschafft, warteten neue Herausforderungen auf die Siedler:innen. Warum sind diese Menschen ausgewandert und welche Rolle spielten sie im kolonialen Projekt?
Auf nach Brasilien
Am 11. September 1819 traten 830
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Freiburger:innen
in Estavayer-le-Lac ihre Reise Richtung Südamerika an. Die Daphne , auf der sie den Atlantik überquerten, war das erste von sieben Schiffen: Insgesamt wanderten rund 2'000 Schweizer:innen nach Brasilien aus. Zu Ehren der neuen Siedler:innen taufte der portugiesische König Joãn VI. die erste nicht-portugiesischsprachige Kolonie in Brasilien auf den Namen Nova Friburgo.
Romantisierende Darstellung der Reise nach Nova Friburgo.
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Zeichnung der Schweizer Kolonie in Cantagallo.
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Erfahre hier, warum die Freiburger:innen ausgewandert sind.
1815 brach in Indonesien der Vulkan Tambora aus. Dadurch verdunkelte sich der Himmel über Europa, die Temperaturen sanken überdurchschnittlich, es fiel viel Regen, die Sonne zeigte sich kaum. Das Jahr 1816 wurde im Volksmund das «Jahr ohne Sommer» genannt; dass ein Vulkan dafür verantwortlich war, haben Forscher:innen erst im 20. Jahrhundert herausgefunden. Die Folgen waren Ernteausfälle und Hungersnöte. Für viele Menschen war dies fatal, denn die Mehrheit lebte zu dieser Zeit von der Landwirtschaft. Im Kanton Freiburg trafen diese schwierigen klimatischen Bedingungen auf eine durch Armut und harte körperliche Arbeit bereits geschwächte Bevölkerung. Von der
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Auswanderung
versprachen sich die Freiburger:innen ein besseres und sichereres Leben.
Im Verzeichnis der ersten Freiburger Ausgewanderten sind bekannte Nachnamen der Region aufgeführt. Sieh dir die komplette Namensliste an.
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Die Gründung der Schweizerkolonie Nova Friburgo kam durch die Vermittlung von Sébastien Nicolas Gachet zustande. Als Agent du Gouvernement de Fribourg (Regierungsbeauftragter von Freiburg) führte er in Rio de Janeiro die Verhandlungen durch. Am 16. Mai 1818 unterzeichneten die Stadt Freiburg und João VI. den gemeinsamen Vertrag. Der portugiesische König sagte zu, die Überfahrt von hundert Freiburger Familien nach Brasilien zu finanzieren, und stellte ihnen Unterkünfte, fruchtbares Land sowie ein Taggeld für die ersten zwei Jahre in Aussicht.
Was schaute für den König dabei heraus?
König João VI. versprach sich von der Einwanderungspolitik nicht nur einen wirtschaftlichen und militärischen Aufschwung. Indem sich die Freiburger:innen in der Landwirtschaft beteiligen sollten, sah er in der Einwanderung auch eine Alternative zur Sklav:innenhaltung: Zu jener Zeit war die Sklav:innenarbeit zunehmender Kritik ausgesetzt. Es stellte sich daher die Frage, wer die Arbeit im landwirtschaftlichen Sektor übernehmen sollte, falls die Haltung von Sklav:innen überhaupt nicht mehr gerechtfertigt werden konnte. Aus Sicht des Königs stellten die Freiburger:innen mit bäuerlichem Hintergrund für dieses Szenario interessante Arbeitskräfte dar. Ausserdem sollten die Einwanderer:innen aus der römisch-katholischen Hochburg
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Freiburg
dabei helfen, den Katholizismus in der Kolonie zu verankern: João VI. forderte von den Freiburger Behörden, dass ausser Gläubigen auch Geistliche die Überfahrt antraten.
Das Auswandern schmackhaft machen
Im Vorfeld des Projekts Nova Friburgo investierten die Regierungen von
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Freiburg
und Brasilien viel in eine breitangelegte Öffentlichkeitsarbeit: Sie warben für die Auswanderung nach Nova Friburgo. Die Versprechungen der Regierungspropaganda und die Realität klafften jedoch weit auseinander.
Klicke hier, um das Kleingedruckte zu lesen.
Urkunde, mit der sich die Auswanderungswilligen Nova Friburgo verpflichteten und in der das Projekt explizit als «Schweizer Kolonie» benannt wurde.
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Im 1818 unterzeichneten Vertrag wurden in 24 Artikeln die Bedingungen der Migration definiert.
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24 Artikel definierten die Bedingungen der Migration. Die Artikel 2-5 regelten zum Beispiel die ersten Jahre nach der Ankunft: Es wurde festgehalten, dass der König die Familien mit Reisportionen unterstützen und dass bereits provisorische Häuser errichtet sein würden. Artikel 13 bestimmte weiter, dass alle Schweizer:innen bei ihrer Ankunft in Nova Friburgo die portugiesische Staatsbürgerschaft erhalten sollten. Darüber hinaus wurde im Vertrag vereinbart, dass zusätzlich zu den Bauern und Bäuerinnen auch andere Berufsgruppen einreisen sollten. Um sich von der Industriemacht England zu lösen, mussten auch Freiburger Handwerker einreisen. Diese sollten ihr Können später portugiesischen Siedler:innen vermitteln.
Das Diagramm zeigt, dass beinahe 50% der Ausgewandernten einen landwirtschaftlichen Hintergrund hatten.
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Andere Artikel waren eher offen formuliert. Nicht definiert war etwa, wie viele Einzelpersonen insgesamt eine Finanzierung erhielten und einreisen durften – festgehalten wurde rein die Anzahl zugelassener Familien: Obschon vereinbart wurde, dass König João VI. 100 Familien finanzieren würde, traten allein aus
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Freiburg
119 Familien mit 688 Personen die Reise nach Brasilien an. Bis zum Frühjahr 1820 waren es schliesslich insgesamt 261 Familien aus der Schweiz, die sich auf den Weg nach Nova Friburgo gemacht hatten. Aufgrund schlechter Hygiene und grassierender Krankheiten gab es allerdings auf der Schiffsreise zahlreiche Todesopfer: 232 Reisende bekamen ihre neue Heimat in Brasilien nie zu Gesicht.
Das Diagramm zu den verstorbenen Freiburger:innen macht deutlich, dass insgesamt 232 Migrierende nie in ihrer neuen Heimat ankamen.
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Angekommen in Nova Friburgo wurde den
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Auswanderer:innen
bewusst, dass die Realität in Brasilien nicht dem versprochenen Traum von Glück und Sicherheit entsprach. Die von der kräftezehrenden Anreise geschwächten Neusiedler:innen konnten das Land nur mit Mühe bewirtschaften: Der Boden war karg, das Gelände steil und das Klima ungünstig. Da sich die Hoffnungen auf Wohlstand in der Anfangszeit nicht erfüllten, verliessen viele Schweizer Auswander:innen Nova Friburgo bereits nach wenigen Jahren wieder. Zahlreiche schlossen sich der königlichen Armee an oder stiegen als Plantagenbesitzer in die Kaffee-Wirtschaft ein, in welcher der materielle und soziale Aufstieg wahrscheinlicher war als im für sie vorgesehenen Vieh- und Ackerbau nach heimatlichem Muster. Dieser Aufstieg war unter anderem auch durch
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Sklav:innenhaltung
möglich: Da die versklavten Menschen ausgebeutet und für ihre Arbeit nicht bezahlt wurden, konnten die Plantagenbesitzer den ganzen Gewinn selbst einstreichen.
Gibt es ein Beispiel eines solchen Werbemittels?
Das Abschiedslied der Freiburger Auswandernden zeigt, wie Nova Friburgo als Erfolgsgeschichte zelebriert wurde. Insbesondere die 3. Strophe unterstreicht die Reise in die Kolonie als Möglichkeit zum sozialen Aufstieg ins Bürgertum.
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Dieses Musikstück handelt von der Abreise nach Nova Friburgo und gehört mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Reihe von Liedern, die beim Abschied in Estavayer-le-Lac und auf der Reise gesungen wurden.

Der Komponist des Lieds bleibt unbekannt – es ist möglich, dass das Lied zu Beginn mündlich überliefert und erst zu einem späteren Zeitpunkt niedergeschrieben wurde. Das bis heute überlieferte Arrangement schrieb Casimir Meister (*1869) gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
Das Musikstück entstand möglicherweise als Kampagnenmittel: Es vermittelt Freude und Zuversicht, die Melodie – ein Marsch – ist lebhaft und mitreissend. Der Text preist Brasilien und die Perspektiven an, die sich im neuen Land ergeben werden. Der Verlust von Freund:innen und Familie wird thematisiert, doch die Aussichten auf die neue Heimat stehen im Vordergrund. Auch die Rolle der Religion wird betont: Mit Hoffnung, Glauben und Nächstenliebe werde man mit Sicherheit alle Gefahren überstehen.
Mit dem Vers «Vous aurez l’avantage d’être bourgeois pour toujours» (Sie werden den Vorteil haben, für immer Bürger zu sein) verheisst das Lied einen sozialen Aufstieg und eine bessere Zukunft: Während die Mehrheit der
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Auswanderer:innen
in ihrer Heimat Freiburg zur Unterschicht gehörte, versprach die koloniale Situation mit ihrem rassistischen Machtgefälle gesellschaftliches Ansehen und Wohlstand. Im Unterschied zu anderen Formen der Auswanderung gehörten die Freiburger:innen in Brasilien durch ihre Herkunft automatisch zu einer privilegierteren Schicht. Die Gefahren, die auf die Auswandernden warteten, kommen nur am Rande vor und der Hunger als Hauptgrund für die Emigration bleibt unerwähnt.
Und heute?
Heute gibt es sowohl in Freiburg als auch in Nova Friburgo eine lebendige
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Erinnerungskultur.
So bleibt die Geschichte der Auswanderer:innen im
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kollektiven Gedächtnis
verankert.
Fotografie des Wegweisers nach Nova Friburgo.
Massgeblich beteiligt an ihrer Aufarbeitung war der Historiker Martin Nicoulin, der in den 1970er Jahren an der Universität Freiburg das Thema in seiner Dissertation untersuchte. Im Buch La genèse de Nova Friburgo versuchte er möglichst viele Aspekte der freiburgischen Auswanderung zu beleuchten, wofür er mehrmals nach Brasilien reiste. Sowohl in Freiburg als auch in Brasilien stiess seine Arbeit auf grosses Interesse. Begeistert gründeten die Bewohner:innen beider Städte die Association Fribourg-Nova Friburgo, die sich seither durch zahlreiche Aktionen für eine lebendige Erinnerungskultur einsetzt. Sie organisiert zum Beispiel gegenseitige Besuche, errichtet Denkmäler oder fördert einen regen wissenschaftlichen Austausch. Während es in Freiburg die Place Nova Friburgo gibt, steht in Nova Friburgo die Praça Fribourg. Zudem baute der Verein in Nova Friburgo die Casa Suíça, ein Chalet, in dem Käse und Schokolode in schweizerischem Stil hergestellt wird und das ein Museum zur Geschichte der Stadt führt. Dabei bedient es jegliche Schweizer Klischees: Besucher:innen können Selfies vor schwarz-weiss gefleckten Kühen und Willhelm Tell-Figuren machen.
200 Jahre Nova Friburgo: was wird gefeiert, was nicht?
2017 verlieh der Gouverneur von Rio de Janeiro, Luiz Fernando Pezão, Nova Friburgo das Etikett einer «Schweizer Stadt», ein symbolischer Schritt, um die enge Verbindung zwischen den beiden Regionen zu betonen. Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums Nova Friburgos hat die Schweizer Regierung unter der Anleitung des gebürtigen Freiburger Bundesrats Alain Berset eine Reihe von Veranstaltungen lanciert, um die Verflechtungsgeschichte in lebendiger Erinnerung zu halten, die Beziehung zwischen der Schweiz und Nova Friburgo zu stärken und dauerhafte Synergien zu schaffen. Das Eidegenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) wurde beauftragt, durch diverse Projekte in Nova Friburgo ein Bild der Schweiz als ein Land zu stärken, das «die Geschichte seiner Auswanderer ehrt» und welches «mit der nötigen Bescheidenheit ihren Mut, ihre Dynamik und ihre positive Einstellung» unterstreicht.
In Nova Friburgo in Brasilien erinnert noch heute eine Statue des Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell an die gemeinsame Vergangenheit.
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Fotografie der Casa Suíça («Schweizer Haus») in Nova Friburgo, wo Käse und Schokolade hergestellt werden.
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Diese von den Regierungen beider Länder gepflegte
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Erinnerungskultur
folgt bis heute dem Narrativ der mutigen, abenteuerlichen Schweizer Auswanderer:innen, die – getrieben von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft – ihr Glück im Ausland suchten und in Brasilien eine Stadt gründeten. Dass viele Schweizer:innen zu Beginn des 19. Jahrhunderts keinen anderen Ausweg als die Emigration sahen, wird in solchen Darstellungen meist weggelassen. Zudem bleibt der koloniale Zusammenhang unerwähnt, und damit die gewaltvollen und unrechtmässigen Aspekte dieser Auswanderung. Insbesondere die ungemütliche Tatsache, dass die Geschichte von Nova Friburgo eng mit der Sklav:innenwirtschaft verflochten ist, wird gerne ausgeklammert – denn auch die Freiburger:innen bewirtschafteten ihre Kolonie mit Sklav:innenarbeit. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Hälfte der Bevölkerung Nova Friburgos versklavt. Der lokale Reichtum stammte unter anderem auch aus dem Handel mit versklavten Menschen. Denjenigen, die geflüchtete versklavte Menschen gefangen nahmen, wurden hohe Belohnungen versprochen – umgekehrt konnte bestraft werden, wer den Menschen Verstecke und Fluchthilfe anbot.
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Klima und Migration – wie sieht es denn heute aus?
Klimabedingungen gehören bis
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heute
mit zu den Gründen, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Zum Beispiel dann, wenn das eigene Land durch die Erhöhung des Meeresspiegels zu verschwinden droht (wie die Insel Kiribati im Pazifik) oder wenn durch vermehrte Dürreperioden die Bewirtschaftung des Bodens unmöglich wird. Von letzterem betroffen sind zum grössten Teil ärmere Bevölkerungsschichten aus dem
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globalen Süden
, die von der Landwirtschaft und von natürlichen Ressourcen abhängig sind.

Die UNO diskutiert darüber, ob Menschen, die in Folge des Klimawandels ihr Land verlassen haben, offiziell als Flüchtende anerkannt werden sollen – aktuell fallen sie noch nicht in diese Kategorie und können in anderen Ländern kein Asyl beantragen.

Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) hat zum Thema Migration und Klimawandel ein Dossier zusammengestellt. Dieses findest du hier.