Die Kolonien als Karrierechance?

Auswandern

Bis ins 20. Jahrhundert war die Schweiz ein Auswanderungsland. Viele Schweizer:innen verliessen ihre Heimat aus wirtschaftlicher Not. Wie sah der Weg ins Ausland für Menschen aus, die das Abenteuer suchten oder Karriere machen wollten?
Drei Beispiele aus dem Freiburger Kontext zeigen drei unterschiedliche Wege in die Kolonien: Als Kaufmann und Forscher, als Käseproduzent, Expeditionsleiter und Regierungsbeauftragter sowie als Händler und Kolonist. Die Beispiele weisen darauf hin, dass die Verbindungen zum Ursprungsland beim Auswandern oft weiterhin bestehen. Der Austausch zwischen zwei Kulturen ist somit nie einseitig: Sei es durch Korrespondenz mit Angehörigen, durch Beiträge in lokalen Zeitschriften oder durch die Rückkehr in die Heimat – bereits im 19. Jahrhundert zirkulierten mit Waren und Menschen auch Bilder, Meinungen und Kulturen.
Bei ihren Reisen in die Kolonien brachten Schweizer Auswandernde auch gewisse Traditionen mit. Gerade auch sportliche Tätigkeiten konnten Gemeinschaftsgefühl in der Ferne stiften.
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Victor Buchs:
Unternehmer in Eritrea, Staatsrat in Freiburg
Victor Buchs war nicht nur langjähriges Mitglied der Freiburger Kantonsregierung, sondern bereiste Ende des 19. Jahrhunderts als Händler auch Eritrea, Abessinien und Britisch-Indien. Seine ausführlichen Reiseberichte erschienen in Wissenschaftsmagazinen, ehe er zu einem Schwergewicht des Freiburger Politbetriebs wurde.
Victor Buchs wurde am 30. Dezember 1866 in Estavayer-le-Lac geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Murten, bevor er als Jugendlicher eine kaufmännische Lehre in Lugano absolvierte. Er arbeitete danach einige Jahre für eine grosse Bank in Venedig und für eine Import-Export-Firma in Neapel. Buchs sprach viele Sprachen – unter anderem Arabisch – und galt als unternehmerisch begabt. Von 1889 bis 1895 leitete er eine Handelsniederlassung in Mitsiwa, der grössten Hafenstadt der damaligen italienischen Kolonie Eritrea.
Amharisches Manuskript, das Victor Buchs 1895 aus Äthiopien zurückbrachte.
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Handelsreisen führten Buchs nach Abessinien und Britisch-Indien. Diese Orte eröffneten ihm nicht nur ein lukratives Einkommen, sondern er entwickelte dort ebenso eine Begeisterung für aussereuropäische Kulturen und Religionen. In seinen Reiseberichten beobachtete, beschrieb und ordnete er die Natur und Menschen in akribischer Weise. Auch begeisterten ihn die Kochkunst, Poesie und Tanz sowie Bestattungsrituale, wie aus seinen Beiträgen zum

Bulletin de la Société neuchâteloise de géographie

ersichtlich wird:

«Die Sklaven, die diese verschiedenen Nahrungsmittel servieren, kosten sie zuerst in Anwesenheit der Gastgeber, um zu zeigen, dass sie kein Gift enthalten. Der Chef des Hauses nimmt anschliessend ein Stück Anguérah, tunkt es mit den Fingern in den Dilli und schiebt es in den Mund jenes Gastes, den er speziell ehren will. Die Mahlzeit kann beginnen, die schwarzen Finger der Gäste verschwinden in die mysteriösen Tiefen des Dillis, um daraus ein so verlockendes wie schmackhaftes Stück herauszuziehen.»

Nachdem Buchs 1895 in seinen Heimatkanton zurückgekehrt war, leitete er gemeinsam mit seinem Bruder Henri die Teigwarenfabrik Sainte-Apolline in Villars-sur-Glâne. Als vielseitiger Unternehmer war er auch in der Direktion der Uhrenfabrik in Muntelier tätig, einer Gemeinde, die ihn zum Ehrenbürger ernannte. Aufgrund seiner Bankenkenntnisse wurde Buchs 1917 zum Aufsichtskommissar der Staatsbank ernannt, für die er bereits seit 1913 als Einnehmer arbeitete.
Buchs’ politische Karriere begann 1907 mit seiner Wahl in den Gemeinderat von Villars-sur-Glâne. Er übte dieses Amt bis zu seiner Ernennung in den Freiburger Staatsrat am 27. Mai 1919 aus, als die konservative Mehrheit des Grossen Rats den Freisinnigen einen Sitz überliess. Buchs fungierte siebzehn Jahre lang als einziger freisinniger Staatsrat von Freiburg und war dreimal Staatsratspräsident (1922, 1928, 1935), bis er 1936 am Ende der Legislatur zurücktrat.
Louis de Boccard:
Freiburger Patrizier, Expeditionsleiter in Südamerika
Als Dreiundzwanzigjähriger schloss sich Louis de Boccard 1889 einer Gruppe von Freiburger
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Auswanderer:innen
an, die mit dreissig Kühen und drei Stieren in die Schweizer Kolonie Bragado in der Nähe von Buenos Aires, der Hauptstadt Argentiniens, übersiedelte. Ihr Ziel war es, am neuen Ort Greyerzerkäse herzustellen. Später zog er ins argentinische La Plata weiter und arbeitete im dortigen Naturhistorischen Museum. Expeditionen in die sogenannte «unberührte» Natur Südamerikas weckten sein – nicht zuletzt wirtschaftliches – Interesse.
Boccard wurde am 8. Mai 1866 in der Stadt Freiburg geboren und wuchs in einer wohlhabenden Patrizierfamilie auf. Nach dem Militärdienst arbeitete er im Landwirtschaftsbetrieb seines Vaters, dem

Domaine du Marais

in Sugiez. Die Familie verkaufte das Gut 1895 für rund 100’000 Franken an den Staat Freiburg, der dort die Strafanstalt Bellechasse gründete. Im argentinischen Bragado arbeitete Boccard zunächst in der Käserei und als Sekretär der Schweizer Kolonie, ehe er 1890 nach La Plata zog. Dort stellte ihn das Naturhistorische Museum als Kurator und Präparator ein. Boccard organisierte schon bald nach seiner Ankunft in La Plata wissenschaftliche, touristische und politische Expeditionen quer durch Südamerika.
Der
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Fotoapparat
war ihm dabei stets ein treuer Begleiter und Boccard betrieb eine Zeit lang sogar ein eigenes Fotostudio. Sein Nachlass enthält über 900 Aufnahmen aus Argentinien, Paraguay, Chile, Brasilien und der Schweiz. Er dokumentierte seine zahlreichen Reisen in Alben mit ausführlich annotierten Bildern. Zu seinen Motiven gehörten auch sogenannte
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«Naturvölker»
wie die Cainguas, Guayaki und Angaités. Von diesen fertigte er Postkarten an, um reiche Kunden für seine Jagdausflüge und wissenschaftlichen Expeditionen im Amazonas zu gewinnen.
Die Postkarte von 1931 zeigt Louis de Boccard in klassischer Kolonialkleidung und sie übernimmt das traditionelle koloniale Arrangement für Fotografien.
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Boccard befriedigte mit seinen Exkursionen nicht nur seine Abenteuerlust und sein Fotofieber, sondern schlug auch kommerziellen Profit aus der vermeintlich unversehrten Natur und den Menschen, denen er in Südamerika begegnete:

«Ich bin zur Überzeugung gelangt, dass ich meine grosse praktische Erfahrung, die ich auf Entdeckungsreisen und im Umgang mit den Indianern gewonnen habe, nutzen muss, um eine kommerzielle und wissenschaftliche Expedition in die noch fast unbekannten Gebiete zusammenzustellen, die von wild lebenden Indianern in den geheimnisvollen und riesigen Urwäldern des Grand Chaco, in Paraguay, in Bolivien und in Brasilien bewohnt werden, um dort unterschiedlichste kinematografische Filmaufnahmen zu machen, die von rührendem wissenschaftlichem Interesse sind und vor allem einen grossen und lukrativen finanziellen Gewinn versprechen. (...) Ich bin überzeugt davon, dass die Nordamerikaner, wenn sie diese Indianer kennen würden und sich bewusst wären, wie viel Profit man aus ihnen ziehen kann, sich beeilen würden, eine oder mehrere Expeditionen durchzuführen, so wie ich sie vorschlage. Lassen wir uns also nicht überholen und beeilen wir uns.»

Dieses Zitat verweist darauf, wie sich bei Boccard die wissenschaftliche Faszination für ein vermeintlich vormodernes «Anderes» mit einer Vorahnung dafür vermischte, dass er gerade auf ein gewinnversprechendes Geschäftsmodell gestossen sei. Auch zeigt sich hier ein für diese Zeit typischer Dringlichkeitsgedanke: Da die «westliche Zivilisation» und «Moderne» bald jede noch so entlegene Gemeinschaft erreicht haben würde, müsse genau zu diesem Zeitpunkt noch Kapital aus der Zurschaustellung «unberührter» Gemeinschaften geschlagen werden. Seine Geschäftsidee kann als kolonialer Tourismus verstanden werden.
Zusätzlich zu seinem Landwirtschaftsbetrieb leitete Boccard ein Hotel in Buenos Aires. Er arbeitete auch als Diplomat im Dienst des argentinischen Staats. Im Auftrag des Generals reiste er in geheimer Mission nach Chile, um sich über die militärische Kraft des Lands zu informieren. Boccard riet dem argentinischen General angesichts Chiles militärischer Überlegenheit von einem Krieg gegen das Nachbarland ab. Dies zeigt auf, wie Boccard als Vertreter der europäischen Oberschicht sogar von der lokalen politischen Elite als Berater konsultiert wurde.
Boccard pflegte sein Leben lang einen engen Kontakt zu seiner Familie und zu einflussreichen Freunden in seinem Heimatkanton. Sie mobilisierten immer wieder ihre Netzwerke, um Boccards Projekte und Unternehmungen in weiter Ferne mitzufinanzieren. Die auf seinen zahlreichen Expeditionen gejagten Tiere, die er ausstopfte und sammelte, gelangten nicht nur in seinen Privatbesitz und ins Museo de La Plata, sondern er schickte diese auch in die Schweiz. Sie erlaubten es dem Naturhistorischen Museum in Freiburg, eine
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koloniale Sammlung
aufzubauen.
Louis Egger:
Wohltäter in Freiburg, Kolonist in Guinea
Louis Egger wurde 1865 in der Stadt Freiburg geboren, absolvierte nach seiner Schulzeit am Collège Saint-Michel zwei Ausbildungen im kaufmännischen Bereich. 1890 entschied er sich, als Angestellter der «Compagnie Française de la Côte Occidentale» nach Guinea zu gehen. In der Hafenstadt Benty erwies er sich als tüchtiger Kaufmann, weshalb ihm die Handelsgesellschaft schon bald mehr Verantwortung zugestand.
Egger interessierte sich stark für die verschiedenen Kulturen in Guinea und lernte auch einige regionale Sprachen. Er unterhielt sowohl zu den afrikanischen Autoritäten als auch zur französischen Kolonialverwaltung enge Beziehungen. So begab er sich regelmässig auf Jagdausflüge mit dem König der Bramaya und fungierte als dessen Berater. Der Gouverneur Guineas ernannte Egger zum Mitglied der kolonialen Handelskammer.
In Kolonialfotografien war es gängig, dass sich Europäer:innen inmitten vermeintlich unbezähmbarer Wildnis ablichten liessen.
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Auf der Fotografie präsentiert sich Louis Egger mit Gewehr und Tropenhelm als Eroberer unbekannter Welten.
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Im Jahr 1900 baute Egger in Ouassou im Königreich Bramaya eine Fabrik und machte sich selbstständig. Ferner besass Egger einen bedeutenden Plantagenbetrieb in Mamou, wo er unter anderem Reisfelder bewirtschaftete. Als Händler tauschte er Waffen, Stoffe und Haushaltsutensilien aus Europa gegen Palmöl, Kautschuk, Elfenbein und Tierhäute aus Guinea. Viele dieser Gegenstände gelangten auch nach Freiburg, insbesondere in die ethnologische Sammlung der Universität. Egger hinterliess zudem eine umfangreiche Fotosammlung, die in der Kantons- und Universitätsbibliothek zugänglich ist. Einen Grossteil der Gewinne aus dem Kolonialhandel spendete Egger für wohltätige Zwecke in seiner Heimatstadt Freiburg. Damit ist Egger ein weiteres Beispiel dafür, was sich über viele Schweizer Städte sagen lässt: Der Wohlstand Freiburgs gründete auch auf Geld, das in den Unrechtsregimen der kolonialen Welt erwirtschaftet wurde.
Die ungleichen kolonialen Machtverhältnisse wurden auf dieser Fotografie durch die Kontrastierung des weissen Erwachsenen mit einem afrikanischen Kind reproduziert.
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