Das Bild vom Fremden verfremden

Völkerschauen

Menschen im Zoo – aussereuropäische Personen wie Tiere ausstellen und damit Geld verdienen: Zwischen 1870 und 1940 waren sogenannte Völkerschauen in Europa weit verbreitet. Blickte man durch das «Fremde» nicht auch auf das «Eigene»?
«Unterhaltsam und lehrreich»
Am 27. August 1903 machte ein Werbeinserat in der Freiburger Zeitung

La Liberté

auf eine Sensation aufmerksam: Afrika sei zu Besuch in
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Freiburg.
Das Inserat von 1903 macht Freiburger:innen darauf aufmerksam, dass im Jardin de Tivoli dreissig Frauen, Männer und Kinder aus Afrika betrachtet werden können.
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Diese Zurschaustellung aussereuropäischer Menschen war eine von vielen, die in Europa bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts organisiert wurden. Zwischen 1870 und 1940 erlebten «Völkerschauen» einen Boom; sie wurden zu einem regelrechten Massenphänomen. Die Menschen wurden nicht selten in unwürdigen Verhältnissen untergebracht und transportiert – viele starben.
War das ein neues Phänomen?
Das Interesse an Menschen aus fernen Weltregionen war in Europa seit Beginn der kolonialen Expansion gross. Seefahrer, wie zum Beispiel Christoph Kolumbus (1451–1506), brachten neben Alltagsgegenständen, Pflanzen und Tieren auch Menschen aus den neu bereisten Gebieten mit in die Heimat, um sie bei Hofe oder auf Jahrmärkten zu präsentieren.
Im deutschsprachigen Raum war dafür insbesondere der Tierhändler Carl Hagenbeck verantwortlich. In den 1870er Jahren professionalisierte er das Geschäft mit den fremden Völkern. Für die ausgestellten Menschen und Tiere liess er aufwändige Kulissen herstellen, um sie in ihrer «natürlichen» Umgebung präsentieren zu können. Des Weiteren nutzte er verschiedene Medien wie Plakate, Zeitschrifteninserate oder Stadtumzüge, um für seine Völkerschauen zu werben, und lancierte Aktionen mit vergünstigten Eintrittspreisen. Über seine Darbietungen schrieb Carl Hagenbeck, dass sie «einem unabsehbaren Publikum Unterhaltung, Anregung und Belehrung» bringen würden. So wurden Völkerschauen nicht nur als unterhaltsam, sondern auch als lehrreich konzipiert. Häufig wiesen die Werbeinserate selbst auf die vermeintliche wissenschaftliche Relevanz von Völkerschauen hin.
Carl Hagenbeck
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Erfahre hier, warum die Völkerschauen so erfolgreich waren.
Um kommerziell erfolgreich zu sein, musste eine Völkerschau drei Elemente vereinen:
1. Zum einen musste sie an bestehende Klischees anknüpfen und die Menschen so zeigen, wie es die Zuschauer:innen erwarteten.
2. Um den Eindruck von Authentizität zu erzeugen, mussten diese Klischees zusätzlich mit der Lebenswelt des Publikums in Verbindung gesetzt werden. Die als «Wilde» präsentierten Menschen wurden deshalb beispielsweise als Teil einer Familie gezeigt. Diese Verknüpfung ermöglichte es den Zuschauer:innen, das Bekannte mit dem Fremden zu vergleichen.
3. Um das Publikum in die Ausstellung zu locken, brauchte jede Völkerschau etwas Spezielles, das sie von anderen Darbietungen abhob. So kam es zum Beispiel dazu, dass ein-und-dieselbe Personengruppe in einem Jahr als Togo-Dorf, im nächsten Jahr als Kongo-Dorf vermarktet wurde.
Entgegen der Behauptung der Organisatoren handelte es sich bei diesen Völkerschauen zu keinem Zeitpunkt um authentische Darstellungen von aussereuropäischen Menschen und deren Lebensweisen. Die Ausstellungen inszenierten und reproduzierten gezielt einen einseitigen und verfälschten Blick auf die Kolonien – dieser war in Europa verbreitet und beliebt. Um das Verlangen nach Bildern der «exotischen», «primitiven» und «wilden Anderen» zu befriedigen, wurden diese Menschen zu Objekten gemacht. Auf der einen Seite waren die Schweizer:innen – zivilisiert und fortschrittlich; auf der anderen Seite die «Anderen», «Exotischen» und «Wilden» – primitiv und rückständig. Durch diese Ausstellungen und die damit verbundenen Werbemittel wie Broschüren oder Plakate wurde die kollektive Identität der Besucher:innen gefestigt, denn: Beim Betrachten des «Anderen» wurde auch immer das «Eigene» ausgehandelt. Die manipulierte Ausstellung aussereuropäischer Menschen und der Zugriff auf sie verstärkten das Gefühl, kulturell überlegen zu sein und rechtfertigten so die globalen Machtverhältnisse.
Warum sind hier keine Bilder dieser Völkerschauen?
Fotografien der Völkerschauen sind als historische Quellen bis heute erhalten. Doch warum finden sich hier keine solchen Bilder? Der Fotoapparat war ein gewaltvolles Werkzeug des
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Kolonialismus
: Menschen wurden oft gegen ihren Willen abgeleuchtet. Die Verwendung der
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Fotografien
war ebenfalls problematisch: Mit den Fotografien wurde der wissenschaftliche Rassismus gefestigt – die systematische Darstellung der «Menschentypen» sollte zum Beispiel Beweise für die
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Rassentheorien
bringen – und das «westliche Überlegenheitsgefühl» stärken. Schliesslich schlugen die Kolonisatoren Kapital aus der Kommerzialisierung der Fotografien, indem sie zum Beispiel Postkarten herstellten und verkauften. Im Kontext der Völkerschauen, wo Menschen regelrecht entmenschlicht, verdinglicht und wie Tiere präsentiert wurden, ist ein Wiederausstellen mehr als problematisch: Werden diese Bilder heute erneut veröffentlicht, wird dieser koloniale Gewaltakt prinzipiell wiederholt.
Mittendrin und sichtbar für alle
Schauplätze von Völkerschauen in der Schweiz waren zum Beispiel zoologische Gärten, Restaurants und Volksfeste. An grösseren Messen wie der Kolonialmesse in Lausanne 1925 und selbst an der Schweizerischen Landesaustellung in Genf 1896 waren Völkerschauen aufgestellt. Auch Zirkusse reisten mit Menschen aus fernen Ländern durch die Schweiz.
Wo waren diese Orte in Freiburg
Mit Titeln wie «Afrique à Fribourg» oder «Village sénégalais – Venant directement de l'Afrique occidentale» warben die Veranstalter in Freiburger Zeitungen für Völkerschauen.
Teilweise wurden in Völkerschauen eine sehr grosse Anzahl von Menschen ausgestellt, wie 1909 im Café des Charmettes.
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Inserate des

Zirkus Knie

verweisen bis ins Jahr 1960 auf Völkerschauen, die neben den jeweiligen Hauptvorstellungen des Zirkus gezeigt wurden.
Der Zirkus Knie warb in den Freiburger Nachrichten von 1955 für die Zurschaustellung aussereuropäischer Menschen im beliebten Nationalzirkus.
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Der

Tivoli Garten, das Café des Charmettes, der Grands-Places

sowie Freiburger Jahrmärkte wurden dadurch Schauplätze der Exotik. Auch auswärtige Völkerschauen und Carl Hagenbeck wurden in Freiburger Medien diskutiert und somit in die Alltagswelt der Freiburger:innen gebracht.
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Wie dem Artikel zu entnehmen ist, wurden 1930 neun afrikanische Familien im Restaurant Charmettes ausgestellt. Ganzer Artikel lesen.
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Gibt es Spuren dieser Menschen in der Schweiz?
Obwohl im Rahmen dieser Völkerschauen tausende aussereuropäische Menschen in die Schweiz kamen, wissen wir kaum etwas über ihren Aufenthalt. Nur ganz vereinzelt finden sich Hinweise darauf, wie sie gelebt haben und was sie erdulden mussten – aber auch, wie sie sich teils gewehrt oder ihre eigenen Ziele und Bedürfnisse umgesetzt haben. Ihr Handlungsspielraum war durch das koloniale Machtgefüge begrenzt. Es ist jedoch wichtig, die Völkerschau-Teilnehmenden als Menschen wahrzunehmen, die mehr als blosse «Opfer» waren, die gegen ihren Willen und ohne jede Möglichkeit sich zu wehren nach Europa gebracht wurden: Der Blick zurück muss sich also auch immer wieder auf die Momente ihres Widerstands, ihrer eigenen Ansprüche und Ziele richten.
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Und heute: Favela-Tour oder lieber einen Einblick in das authentische Leben eines nepalesischen Bergdorfs?
Auch
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heute
preisen Reiseanbieter «authentische» Einblicke in andere Kulturen an: Tourist:innen können die Armenviertel Rio de Janeiros besuchen, Globetrotter bietet auf einer «authentischen Trekkingreise» in Nepal einen Besuch in einem Bergdorf an – Beispiele gibt es unzählige. Meist entstehen während diesen Reisen Fotografien, die als selektive Momentaufnahme des «Fernen» und «Anderen» wiederum das eigene Bild davon festigen, das man sich womöglich aus Katalogen oder Internetrecherchen bereits gemacht hat. Der Wunsch, «Fremdes» zu besuchen und in andere Kulturen einzutauchen, ist an sich nichts Verwerfliches. Die Schweizer non-profit-Organisation fairunterwegs formuliert zum Beispiel fünf Faustregeln, damit die Rechte der Menschen in den Destinationen respektiert werden:
  • sich Zeit nehmen,
  • fairer Austausch,
  • Nutzen für Einheimische,
  • faire Preise
  • und einen schonungsvollen Umgang mit der Umwelt.